Europäische Wirtschaftspolitik

Grundlagen - Aufgaben - Instrumente - Entwicklung und Zukunft

Autor: Dr. Peter Becker ist seit 2004 Wirtschaftswissenschaftler und Europawissenschaftler bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Die europäische Wirtschaftspolitik sowie der EU-Haushalt und die Finanzen sind Schwerpunkte seiner Forschung.

Die europäische Einigung war stets auch ein ökonomisches Projekt. Eine wesentliche Triebfeder dieser ökonomischen Integration war und ist das Ziel, die nationalen Volkswirtschaften in einem gemeinsamen Markt mit einer gemeinsamen Währung zusammenzuführen. Der europäische Binnenmarkt bildet heute den Kern des europäischen Integrationsprozesses; er ist der weltweit größte Binnenmarkt mit mehr als 500 Millionen Konsumenten und einem Bruttoinlandsprodukt von mehr als 15 Billionen Euro pro Jahr.

In diesem gemeinsamen Markt können sich Arbeitnehmer frei bewegen und Unternehmen sich überall niederlassen, Kapital und Dienstleistungen können die nationalen Grenzen überqueren, Güter können problemlos gekauft und verkauft werden. Die EU kann die Zulassung von Gütern und Dienstleistungen regulieren, europäische Mindeststandards festlegen und mit eigenen Fördermitteln Investitionen anstoßen.

Es ist jedoch überraschend, dass die Europäische Union 30 Jahre nach Schaffung des europäischen Binnenmarkts und 20 Jahre nach Einführung der gemeinsamen Währung noch immer nicht über die Kompetenz verfügt, eine eigene europäische Wirtschaftspolitik zu gestalten und umzusetzen. Dennoch verfügt sie über wirtschaftspolitische Handlungsmöglichkeiten und Instrumente.

 

Grundlagen der europäischen Wirtschaftspolitik

Die europäische Wirtschaftspolitik wird von den EU-Mitgliedstaaten dominiert und festgelegt. Ebenso wie die europäischen Gründungsverträge spricht auch der Vertrag von Lissabon in Artikel 119 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) lediglich von „einer engen Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten“, beruhend auf „dem Binnenmarkt und der Festlegung gemeinsamer Ziele“. Das europäische Vertragsrecht verpflichtet die Mitgliedstaaten dazu, ihre nationalen Wirtschaftspolitiken „im Einklang einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ zu koordinieren und auf die gemeinsamen Ziele auszurichten. In Artikel 121 AEUV heißt es: „Die Mitgliedstaaten betrachten ihre Wirtschaftspolitik als eine Angelegenheit von gemeinsamem Interesse und koordinieren sie.“

Das europäische Vertragsrecht geht also nicht von einer supranationalen, einer gemeinschaftlichen europäischen Wirtschaftspolitik aus. Eine Übertragung von wirtschafts-, beschäftigungs- oder sozialpolitischen Zuständigkeiten auf die Europäische Union, die über das bisherige Maß hinausgeht und eine Harmonisierung oder gar Zentralisierung der Politiken erlauben würde, haben die Mitgliedstaaten bislang stets abgelehnt. Der offenkundige Widerspruch zwischen dem Festhalten an nationalen Souveränitäten und der Notwendigkeit, in eben diesen Politiken gemeinschaftlich tätig zu werden, soll mit der weicheren Methode der Politikkoordinierung aufgelöst werden.

Die europäische Integration hatte von Anfang an die Schaffung eines gemeinsamen Marktes für Güter, Arbeitskräfte, Kapital und Dienstleistungen mit gleichen Wettbewerbsbedingungen zum Ziel. Die EU verfolgte dieses Ziel mit einer Politik der Rechtsangleichung und Standardisierung. Aufgrund der Fülle an anzugleichendem nationalem Recht sowie der technischen und administrativen Hemmnisse wurde das Prinzip der Harmonisierung Ende der 1980er Jahre um den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung ergänzt. Dieses Prinzip fordert von den Mitgliedstaaten bei Gütern, die in gesetzmäßiger Weise in einem anderen Mitgliedstaat hergestellt worden sind, die gegenseitige Anerkennung der unterschiedlichen nationalen Standards.

Der europäische Binnenmarkt steht nunmehr im Zentrum der ökonomischen Integration (1) und damit auch der europäischen Wirtschaftspolitik. Seine ökonomische und politische Bedeutung ist immens; in den Augen der Europäischen Kommission ist er „eine der größten Errungenschaften des europäischen Projekts … und war ein zentraler Faktor für den wachsenden Wohlstand der Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union“.(2)

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Aufgaben der europäischen Wirtschaftspolitik

Die wichtigsten Aufgaben staatlicher Einflussnahme auf ökonomische Prozesse sind in einer sozialen Marktwirtschaft, die auch das Ziel und das wirtschaftspolitische Leitbild der EU ist, stets die Stabilisierung bei konjunkturellen Schwankungen sowie der Ausgleich von Konjunkturzyklen und die Verringerung gesellschaftlicher Wohlfahrtsunterschiede. Die Instrumente einer solchen marktorientierten Wirtschaftspolitik sind zunächst finanzielle, steuerliche oder sonstige Anreize zur Aufnahme oder Aufgabe einer spezifischen wirtschaftlichen Tätigkeit, die Regulierung von Märkten durch staatliche Gesetzgebung und Vorgaben sowie die Gewährleistung gleicher Wettbewerbsbedingungen aller Marktteilnehmer. Die Europäische Union verfügt über einige dieser wirtschaftspolitischen Instrumente, jedoch nicht über alle, und sie kann keineswegs alleine über den Einsatz sowie die Form und den Umfang des Einsatzes der Instrumente entscheiden. Beispielsweise verfügt sie nicht über ausreichende Budgetmittel, über deren Verwendung sie autonom entscheiden kann, um wirksame und nachhaltige finanzielle Anreize setzen zu können. Sie kann auch keine Steuern erlassen oder bestehende Steuersätze verändern, um die Preisbildung auf den europäischen Märkten beeinflussen zu können; und ihr fehlen weitgehende beschäftigungs- und sozialpolitische Kompetenzen, um die Folgen ökonomischer Entscheidungen abfedern zu können.

Grundsätzlich ist die Notwendigkeit einer gemeinsamen europäischen Wirtschaftspolitik nicht umstritten, sondern wird von allen Institutionen und Mitgliedstaaten in der EU geteilt. Umstritten sind jedoch die Leitbilder, die Form und das Ausmaß, die Instrumente und teilweise auch die Ziele einer europäischen Wirtschaftspolitik. Die nationalen Wirtschaftspolitiken unterscheiden sich insbesondere auch, weil die Mitgliedstaaten häufig sehr unterschiedlich von wirtschaftspolitischen Herausforderungen oder von externen ökonomischen Schocks oder Krisen betroffen sind. Die daraus erwachsenden unterschiedlichen Dringlichkeiten wirtschaftspolitischer Maßnahmen und die Verteilung der Anpassungskosten führen häufig zu abweichenden und oft auch gegensätzlichen nationalen Interessen. Die Mitgliedstaaten unterscheiden sich darüber hinaus in ihren gewachsenen wirtschaftspolitischen Traditionen. Sie verfolgen nicht die gleichen wirtschaftspolitischen Modelle und sind durch unvereinbare Strukturen, Ziele und Interessen gekennzeichnet.

Um die zum Teil weit auseinander liegenden Positionen der Mitgliedstaten anzunähern, schlägt die Europäische Kommission deshalb in der Regel zunächst gemeinsame wirtschaftspolitische Ziele, verbindliche Prioritäten und Leitlinien vor, die dann von den Mitgliedstaaten akzeptiert und umgesetzt werden. Die Art der Implementierung sowie teilweise auch die Auswahl geeigneter wirtschaftspolitischer Maßnahmen verbleiben in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Die EU, d. h. in der Regel die Europäische Kommission, überwacht dann die Einhaltung und Umsetzung der gemeinsam vereinbarten Ziele und Vorgaben. Sie verfügt somit über die Möglichkeit einer nur begrenzten und mittelbaren wirtschaftspolitischen Steuerung.

Aufgabe einer europäischen Wirtschaftspolitik ist es demzufolge, unter schwierigen internationalen Rahmenbedingungen, mit differenzierten Interessen der Akteure in der EU eine ausgewogene Balance zwischen den Einzelinteressen der Mitgliedstaaten und deren wirtschaftspolitischen Akteure, wie Verbände, Unternehmen oder Gewerkschaften einerseits und andererseits dem europäischen Gesamtwohl sowie den gemeinsamen wirtschaftspolitischen Zielen, zu finden. Das wirtschaftspolitische Instrumentarium der EU besteht derzeit also vornehmlich in der politischen Abstimmung und Koordinierung der mitgliedstaatlichen Wirtschaftspolitiken.

Instrumente der europäischen Wirtschaftspolitik

Der europäische Binnenmarkt muss kontinuierlich an neue Herausforderungen, ein sich veränderndes Umfeld oder wechselnde Rahmenbedingungen angepasst und weiterentwickelt werden. Da dieses zentrale wirtschaftspolitische Integrationsprojekt insofern nie abgeschlossen sein wird, muss die Europäische Union immer wieder mit europäischer Gesetzgebung regulierend eingreifen.

Gesetzgebung und Regulierung des EU-Binnenmarkts

Die EU kann mit ihrer Gesetzgebung neue Märkte für den Binnenmarkt öffnen oder bestehende ausweiten, etwa die Telekommunikationsmärkte; sie kann aber umgekehrt auch Märkte schließen bzw. schützen, wie etwa den Agrarmarkt. Die Dienstleistungsrichtlinie für den Dienstleistungssektor, die Kapitalmarktunion für die Finanzmärkte, Initiativen im Bereich der Energiewirtschaft, der Verkehrs- und Transportpolitik oder der Universaldienste sind bekannte Beispiele, bei denen europäische Rechtsetzung neue Märkte öffnen oder erweitern konnte.

Die Öffnung von Märkten für den freien Wettbewerb, also die Deregulierung, zieht häufig zugleich die Möglichkeit und Notwendigkeit der Re-Regulierung nach sich. Damit ist mehr als bloße Rechtsetzung gemeint; konkret geht es um die Festlegung von Grenzwerten, Normen oder Standards, deren Überwachung und gegebenenfalls die Verhängung von Sanktionen im Falle der Nicht-Einhaltung sowie um die Schaffung entsprechender Verfahren und Institutionen. So kann die EU beispielsweise soziale, arbeitsschutz- oder umweltschutzpolitische Mindest- oder Sicherheitsstandards vorgeben.

Für neue Regulierungsaufgaben ist die Digitalpolitik ein gutes Beispiel. Wenn durch Innovationen neue Märkte entstehen, ist die EU gefordert, für den entstehenden Gemeinschaftsmarkt und den Zugang dazu Regeln und Standards zu entwerfen. Gerade an der Regulierung der Datenmärkte zeigt sich, welche Gestaltungsmöglichkeiten mit der immensen Marktmacht der EU einhergehen. Die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) ist sicherlich das bekannteste Beispiel dafür, dass das „Regulierungsmodell Europas“ als „Bezugspunkt für viele Länder außerhalb Europas“ (3) fungiert. Die Marktmacht des europäischen Binnenmarktes versetzt die EU in die Lage, eigene Standards, Normen und Regel zu definieren, global vorzugeben und auch weitgehend durchzusetzen – eine Wirkung, die auch als „Brüssel-Effekt“ bezeichnet wird. (4)

Die EU-Mitgliedstaaten profitieren insofern in doppelter Hinsicht vom Binnenmarkt: zum einen durch die Vorteile im Handelsaustausch und durch Wohlfahrtseffekte für die eigene Volkswirtschaft. Verschiedene Studien haben gezeigt, dass der Handel zwischen den Mitgliedstaaten seit Schaffung des Binnenmarktes deutlich zugenommen hat. Der Umfang des grenzüberschreitenden Waren- und Dienstleistungsverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten hat sich ungefähr verdoppelt; bis zu 56 Millionen Arbeitsplätze sind in Europa abhängig von diesem Handelsaustausch im Binnenmarkt. Die Europäische Kommission beziffert die wirtschaftlichen Vorteile des Binnenmarktes für die EU auf ein langfristig höheres Bruttoninlandsprodukte der EU von bis zu 9 Prozent. (5)  Zwar zeigen Studien, dass die positiven Effekte der Marktintegration zwischen den Mitgliedstaaten und -regionen ungleich verteilt sind; sie belegen aber dennoch, dass der Binnenmarkt sich für alle Mitgliedstaaten lohnt. Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung bezifferte 2019 die Vorteile des Binnenmarktes für Deutschland auf jährlich rund 840 Euro pro Person. (6)

Zum anderen dient der gemeinsame Markt der Absicherung nach außen und zugleich auch der Stärkung einzelner Volkswirtschaften im globalen Wettbewerb. Der Binnenmarkt mit seiner Marktmacht erhöht den ökonomischen Stellenwert aller Mitgliedstaaten im globalen Wettbewerb gegenüber der Außenwelt.

Wirtschaftspolitische Regulierung mit Hilfe des europäischen Wettbewerbsrechts

Der europäische Binnenmarkt kann dauerhaft nur funktionieren, wenn weitgehend gleiche Wettbewerbsbedingungen für die europäischen Unternehmen in diesem gemeinsamen Wirtschaftsraum garantiert und ein Übermaß nationaler Subventions- und Förderpolitiken durch die öffentliche Hand verhindert werden. Die Europäische Kommission als supranationale, dem europäischen Gemeinwohl verpflichtete Institution fungiert als europäische Wettbewerbsaufsichtsbehörde – unabhängig von nationalen oder regionalen Interessen in den Mitgliedstaaten. Sie kümmert sich um die im europäischen Primärrecht vorgegebenen wettbewerbsrechtlichen Kategorien des Kartellverbots, des Verbots anderer wettbewerbsbeschränkender Maßnahmen oder Absprachen, der Fusionskontrolle und des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung sowie um die Überwachung des grundsätzlichen Beihilfeverbots und das Monitoring bei öffentlichen Ausschreibungen.

Die Europäische Kommission kann als europäische Wettbewerbsbehörde steuernd in das Marktgeschehen eingreifen, indem sie die wettbewerbs- und beihilfenrechtlichen Vorgaben des europäischen Vertragsrechts konkretisiert, die Umsetzung regelt und die Einhaltung überwacht. Um die Vor- und Aufbereitung spezifischer wettbewerbsrelevanter Fälle sowie um die Untersuchung, Bewertung und Vorbereitung von Entscheidungen wie Strafzahlungen, Fusionsverbote oder Unternehmensaufspaltungen kümmert sich die Generaldirektion Wettbewerb.

Die strikte europäische Wettbewerbs- und Beihilfenpolitik steht allerdings in einem Spannungsverhältnis zu anderen Formen der europäischen Wirtschaftspolitik. Das gilt insbesondere für europäische Förderprogramme zugunsten der Agrarwirtschaft und mithilfe der Strukturfonds zugunsten einzelner Regionen sowie für die europäische Industriepolitik.

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Die strategische Planung der europäischen Wirtschaftspolitik

Auch in Bereichen, in denen die EU nur über begrenzte Möglichkeiten der wirtschaftspolitischen Rechtssetzung und Regulierung verfügt, kann die EU auf den Rahmen, die Prioritäten und die Maßnahmen der mitgliedstaatlichen Wirtschaftspolitiken Einfluss nehmen.

Sie tut dies zunächst in Form mittelfristiger, zumeist zehnjähriger, wirtschaftspolitischer Strategien der EU. Den Anfang machte die sogenannte Lissabon-Strategie für die Jahre 2000 bis 2010 (7), die 2010 mit der Strategie „Europa 2020“ erneuert wurde. Diese Strategie wurde im Dezember 2019 wiederum vom sogenannten europäischen Green Deal abgelöst. Der Green Deal soll als Neuanfang der europäischen Wirtschaftspolitik der EU im nächsten Jahrzehnt die Gelegenheit bieten, den Übergang zu einer klimaneutralen und digitalen Wirtschaft zu ermöglichen. (8)  Die Kommission entwickelt mit dieser Strategie ein Leitbild für die EU, das künftig „Nachhaltigkeit und die Wohlfahrt der Menschen ins Zentrum der Wirtschaftspolitik“ rückt; das Wirtschaftswachstum soll von der Ressourcennutzung abgekoppelt werden, damit das „Naturkapital der EU“ geschützt, bewahrt und dieser Übergang zugleich gerecht und inklusiv organisiert werden kann; „wettbewerbsfähige Nachhaltigkeit“ sei das „Herzstück der sozialen Marktwirtschaft Europas“. Mit dieser neuen Wirtschaftsstrategie verbindet die EU die Hoffnung, „die EU zu einer fairen und wohlhabenden Gesellschaft mit einer modernen, ressourceneffizienten und wettbewerbsfähigen Wirtschaft“ auszubauen.

So versucht die EU und insbesondere die Europäische Kommission als Antreiberin, die Mitgliedstaaten im Zuge der wirtschaftspolitischen Koordinierung auf gemeinsame mittelfristige Ziele zu verpflichten. Mit der Erstellung von europäischen wirtschaftspolitischen Planungs- und Strategiedokumenten soll ein gemeinsames Verständnis von Problemen, Herausforderungen und Zielen erarbeitet werden und so die unterschiedlichen mitgliedstaatlichen wirtschaftspolitischen Ansätze aneinander angenähert werden. Indem auf europäischer Ebene gemeinsame Ziele vorgeschlagen werden, die von den Mitgliedstaaten akzeptiert und umgesetzt werden, kann die EU gemeinsame wirtschaftspolitische Prioritäten und Leitlinien fixieren. Die EU erhält darüber hinaus auch von den Mitgliedstaaten den Auftrag, die Einhaltung und Umsetzung der gemeinsam vereinbarten Ziele und Vorgaben zu überwachen und, wenn erforderlich, zu sanktionieren. Die Europäische Kommission kann so die wirtschaftliche Entwicklung in der EU und den Mitgliedstaaten zumindest mittelbar mitbestimmen und insofern eine gewisse wirtschaftspolitische Steuerung ausüben. Die Umsetzung und in einigen Bereichen auch die Auswahl der geeigneten Maßnahmen verbleibt allerdings in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten.

Europäische Industiriepolitik

Ein besonderes Feld dieser indirekten Einflussnahme auf die europäischen Volkswirtschaften bietet die europäische Industriepolitik. In Artikel 173 AEUV werden jedoch die industriepolitischen Handlungsmöglichkeiten der EU auf die Konsultation und Koordinierung der Maßnahmen in den Mitgliedstaaten beschränkt. Auch in der Industriepolitik setzt die Europäische Kommission zunächst auf die Erarbeitung von Strategien, um zu einem gemeinsamen Verständnis der künftigen Ausrichtung zu kommen. Mit ihren Strategien bestätigt die Kommission ihren eher wirtschaftsbegleitenden und rahmensetzenden Ansatz, um über die Vereinbarung gemeinsamer Ziele auf die industriepolitischen Maßnahmen in den Mitgliedstaaten einzuwirken. Allenfalls für Schlüsseltechnologien schlägt sie konkrete Einzelmaßnahmen mit Anstoß- oder Anreizwirkung vor.

Im Rahmen von sogenannten IPCEI (Important Projects of Common European Interest), etwa in der Robotik und der Mikroelektronik, der Biomedizin und bei Nanotechnologien oder der Entwicklung von Batterien, werden europäische Wertschöpfungsketten oder „industrielle Ökosysteme“ entwickelt. Es geht bei diesen industriepolitischen Fördermaßnahmen und den entsprechenden Subventionen um die Unterstützung der Digitalisierung der europäischen Industrieunternehmen, um Initiativen zur Förderung von Klimaneutralität und einer CO2-sparenden Kreislaufwirtschaft bei Aufrechterhaltung der globalen Wettbewerbsfähigkeit und Sozialverträglichkeit.

Wirtschaftspolitische Koordinierung und das Europäische Semester

Im Zentrum der wirtschaftspolitischen Koordinierung in der EU steht seit 2011 das sogenannte Europäische Semester. Mit diesem sich jährlich wiederholenden Koordinierungszyklus versucht die EU die nationalen Wirtschaftspolitiken der Mitgliedstaaten zu koordinieren und enger miteinander zu verzahnen. Der Zyklus beginnt in der Regel im November mit der Vorlage eines umfassenden sogenannten Herbstpakets der Europäischen Kommission. Darin enthalten ist der sogenannte EU-Jahreswachstumsbericht, in dem die Europäische Kommission die Wirtschaftslage in EU und Eurozone analysiert und ihre Prognose zur Entwicklung des Folgejahres vorlegt. Teil des Pakets sind auch die Entwürfe für die vertraglich geforderten Berichte zur Umsetzung der wirtschaftspolitischen Grundzüge sowie der beschäftigungspolitischen Leitlinien der EU. Hinzu kommen Bewertungen der Kommission zu den fiskalpolitischen Stabilitäts- und Konvergenzprogrammen der Mitgliedstaaten und seit 2012 ein Frühwarnbericht zu makroökonomischen Ungleichgewichten.

Auf der Basis dieser Analysen schlägt die Europäische Kommission wirtschafts-, beschäftigungs- und sozialpolitische Handlungsprioritäten für die EU und die Eurozone vor, die sie in ihrem sogenannten Winterpaket vorlegt. Für jeden Mitgliedstaat erstellt sie auch einen gesonderten Länderbericht, in dem sie dessen wirtschafts-, beschäftigungs-, sozial- und haushaltspolitischen Entscheidungen und Maßnahmen im abgelaufenen Jahr analysiert, bewertet und mit den gemeinsamen europäischen Zielen und den politischen Empfehlungen der Union für den jeweiligen Mitgliedstaat abgleicht. Aus den Fortschritten oder Problemen des Mitgliedstaates werden entsprechende Handlungs- und Reformempfehlungen für das Folgejahr abgeleitet und präsentiert.

Die Mitgliedstaaten prüfen und diskutieren diese Vorschläge und legen dem Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs eine eigene Bewertung vor. Auf ihrem Frühjahrsgipfel im März verabschieden die Staats- und Regierungschefs die wirtschafts- und beschäftigungspolitischen Leitlinien der EU, die anschließend zusammen mit den Länderberichten und den Reformempfehlungen der Kommission auf nationaler Ebene umgesetzt werden müssen.
Das umfassende Gesamtpaket aus Prognosen und Länderberichten der Kommission, den Stellungnahmen der Mitgliedstaaten, den Leitlinien des Europäischen Rates und den nationalen Reform- und Stabilitäts- bzw. Konvergenzprogrammen bildet die Grundlage für die sogenannten länderspezifischen Empfehlungen (LSE). Diese LSE der Kommission sind ein für jeden Mitgliedstaat gesondert erarbeitetes umfassendes und abgestimmtes wirtschaftspolitisches Reformpaket. Es beinhaltet länderspezifische wirtschafts-, beschäftigungs-, fiskalpolitische und inzwischen auch klimapolitische Empfehlungen und Reformvorschläge. Als präzise formulierte Orientierungshilfe liefern sie den Mitgliedstaaten Vorgaben zur Fortsetzung, Intensivierung oder Neuausrichtung ihrer nationalen wirtschaftspolitischen Maßnahmen.

Die Mitgliedstaaten erstellen ihrerseits sogenannte Nationale Reformprogramme (NRP) und mit Blick auf ihre Haushaltspolitik nationale Stabilitäts- oder, wenn sie noch kein Mitglied der Eurozone sind, Konvergenzprogramme zu ihrer mittelfristigen Haushaltsführung. Darin führen sie detailliert aus, welche wirtschafts- und haushaltspolitischen Reformen sie planen, welche Ziele sie wie erreichen und welche Hemmnisse für ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum sie wie beseitigen wollen. Diese NRP bilden somit das mitgliedstaatliche Pendant zu den europäischen Empfehlungen für wirtschafts- und beschäftigungspolitische Maßnahmen in den LSE. Die Mitgliedstaaten verabschieden schließlich bis zum Juli die endgültigen länderspezifischen Empfehlungen, die anschließend von den Mitgliedstaaten in der zweiten Jahreshälfte umzusetzen sind. Mit dem nächsten Herbstpaket der Kommission beginnt dann im November der nächste Zyklus des Europäischen Semesters.

Das Europäische Semester ist mithin die organisatorisch-administrative Klammer für die Koordination der europäischen wirtschaftspolitischen Ziele mit den nationalen Maßnahmen zu deren Umsetzung. Es bietet den formalen und inhaltlichen Rahmen für eine direkte Abstimmung und Zusammenarbeit der Europäischen Kommission mit den Regierungen der Mitgliedstaaten in nahezu allen Fragen der Finanz-, Haushalts-, Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik. So hat sich ein relativ effizientes Zusammenspiel von Europäischer Kommission und nationalen Regierungen der Mitgliedstaaten etabliert. Obgleich es der Europäische Rat und die Mitgliedstaaten sind, die im Frühjahr die Analysen sowie die Wachstums- und Beschäftigungsberichte der Europäischen Kommission zur Kenntnis nehmen, auf dieser Grundlage eigene Leitlinien und Vorgaben für das Europäische Semester formulieren und schließlich im Rat der EU die länderspezifischen Empfehlungen der EU verabschieden, dominiert de facto die Europäische Kommission das Europäische Semester. Die länderspezifischen Empfehlungen werden von ihr vorgeschlagen, und die Mitgliedstaaten können von der eingeschlagenen Linie und den Empfehlungen kaum abweichen. Das Europäische Semester stärkt also zunächst die Rolle und den Einfluss der Europäischen Kommission auf die Koordinierung der mitgliedstaatlichen Wirtschafts-, Fiskal- und Beschäftigungspolitiken.

Unter den Rahmenbedingungen der europäischen Verträge ist das Europäische Semester das wichtigste Instrument, das eine effektive wirtschaftspolitische Koordinierung der Mitgliedstaaten gewährleistet: Durch die Ausrichtung auf die gemeinsamen Ziele und Interessen, durch finanzielle Anreize aus europäischen Fonds und – unter bestimmten Bedingungen – durch Sanktionen bei Nichtbeachtung der gemeinsam vereinbarten wirtschaftspolitischen Maßnahmen.

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Finanzielle Anreize durch europäische Fördergelder mit neuen Konditionalitäten

Finanzielle Anreize durch europäische Förderpolitiken sind wichtige Ergänzungen zur wirtschaftspolitischen Steuerung mithilfe des Europäischen Semesters. Die EU verfügt zwar nur über ein im Vergleich zu mitgliedstaatlichen Haushalten kleines Budget, und ihre Autonomie bei der Nutzung dieser finanziellen Ressourcen ist begrenzt. Dennoch kann sie mit eigenen Fonds und Investitions- oder Förderprogrammen durchaus wirksame Anschubfinanzierungen bereitstellen und so Impulse zur Umsetzung ihrer wirtschaftspolitischen Ziele und Projekte setzen.

Die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) ist die älteste, bekannteste und die am häufigsten kritisierte Förderpolitik der EU für einen speziellen Sektor des europäischen Binnenmarktes. (9)  Für die sogenannte erste Säule der GAP – die Direktzahlungen an die Landwirte sowie Marktstützungsmaßnahmen – wurden bis 2027 rund ein Drittel des europäischen Haushalts reserviert, insgesamt rund 190 Mrd. Euro.

Im Vordergrund der Wirtschaftsförderung aus dem europäischen Haushalt stehen jedoch die europäischen Strukturfonds. Mit diesen Fonds (10) sollen die wirtschaftlichen Divergenzen zwischen den Regionen in der EU verringert und die europäische Kohäsion gestärkt werden. Sie entwickeln sich seit einigen Jahren langsam, aber zunehmend zu einem wirtschaftspolitischen Lenkungs- und Steuerungsinstrument der EU. Die Mitgliedstaaten und ihre Regionen nutzen die europäischen Strukturfonds für breit angelegte Infrastruktur-, Wirtschaftsförder- und Beschäftigungsprogramme. Für diese Fonds werden in der aktuellen Förderperiode bis 2027 alles in allem rund 380 Milliarden Euro im EU-Haushalt eingeplant, die in unterschiedlicher Höhe mit nationalen und regionalen Haushaltsmitteln kofinanziert werden, so dass ein weitaus größeres Investitionsvolumen erwartet wird.

Allerdings ist die Verwendung dieser europäischen Fördergelder keineswegs ohne Kontrolle oder ohne Auflagen möglich; vielmehr sind die Gelder mit sogenannten Konditionalitäten, also Bedingungen zur Umsetzung politischer Vorgaben und Ziele verbunden. Die mittel- bis langfristigen Ziele aus den zehnjährigen Wachstumsstrategien und die kurzfristigen Reformprioritäten im Zuge des Europäischen Semesters dienen als Instrumente dieser Konditionalität. Demnach kann die Kommission einen Mitgliedstaat auffordern, seine Förderprioritäten abzuändern damit die EU-Strukturfonds den gemeinsamen wirtschaftspolitischen Zielen und der Umsetzung der länderspezifischen Empfehlungen im Rahmen des Europäischen Semesters dienen. Sie darf sogar die Zahlungen aus den EU-Strukturfonds teilweise oder sogar vollständig aussetzen, sollte ein Mitgliedstaat die Vorgaben und Empfehlungen der wirtschaftspolitischen Koordinierung nicht einhalten.

So ist es der Kommission möglich, die Beachtung der wirtschafts-, finanz-, beschäftigungs-, haushalts- und sozialpolitischen Ziele und Leitlinien besser durchzusetzen; sie verfügt über die Möglichkeit, mithilfe der Fondsverordnungen und den kohäsionspolitischen Steuerungs- und Planungsdokumenten die mitgliedstaatlichen und regionalen Förderprioritäten mitzubestimmen. Die europäischen Strukturfonds dienen nicht mehr nur der innereuropäischen Solidarität und des Ausgleichs zwischen wohlhabenden und ärmeren Regionen, sondern werden zunehmend zu Steuerungsinstrumenten der europäischen Wirtschaftspolitik. Ohne Zweifel sind die europäische Kohäsionspolitik und die Strukturfonds zum wichtigsten Finanzinstrument der europäischen Wirtschaftspolitik geworden.

Daneben verfügt die EU über einige kleinere Programme, mit denen sie ähnliche Anreize für spezielle Wirtschaftssektoren anbieten kann. Dies sind zum Beispiel Fonds oder Programme zur Förderung einzelner Industriesektoren, kleiner und mittelständischer Unternehmen, zur Unterstützung von Innovation und Forschung oder bildungspolitische Förderprogramme. Hierzu zählt beispielsweise das Programm „Connecting Europe“ zur Förderung transeuropäischer Verkehrs-, Energie- und digitaler Netze oder das Programm zur Forschungs- und Innovationsförderung „Horizont 2020“. Neu geschaffen wurde der sogenannte Fonds für den gerechten Übergang oder Just Transition Fonds (JTF) mit insgesamt 17,5 Milliarden Euro. Mit diesem neuen Instrument fördert die EU den Ausstieg aus fossilen Brennstoffen (Kohle, Torf und Ölschiefer) und ersetzt den Regionen und Sektoren die Kosten für diesen Ausstieg. Gefördert werden sollen Investitionen in KMU, Unternehmensgründungen und Gründerzentren, Forschung und Innovationen, die Kreislaufwirtschaft, der Einsatz neuer und sauberer Technologien, die Digitalisierung, die Sanierung und Dekontaminierung von Standorten oder die Weiterqualifizierung, Umschulung und Arbeitssuche sowie die aktive Eingliederung von Arbeitssuchenden.

Zusätzlich stehen der EU Finanzinstitute wie die Europäische Investitionsbank (EIB) zur Verfügung, die ebenfalls wirtschaftspolitische Impulse in Form von Krediten oder Garantien setzen können.

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Europäische Wirtschaftspolitik in Krisenzeiten

Gerade in Krisenzeiten ist es das vordringliche Ziel der EU, die ökonomischen und sozialen Folgen von Krisen zu mildern und die ökonomische Leistungsfähigkeit der EU und ihrer Mitgliedstaaten zu sichern. Maßnahmen zur Krisenbewältigung in der EU bestehen insofern stets darin, das Wirtschaftswachstum anzukurbeln, Beschäftigung zu sichern und die Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. Dabei waren die Krisen und ökonomischen Schocks in den letzten Jahren durchaus sehr unterschiedlich und folglich auch die Betroffenheit und die Belastungen durch diese Krisen. Während die Verschuldungskrise in der Eurozone und die Reaktionen der globalen Finanzmärkte vor mehr als einem Jahrzehnt zunächst nur einige Mitgliedstaaten in der Eurozone direkt mit voller Wucht traf, waren von der Pandemiekrise zu Beginn des Jahres 2020 alle Mitgliedstaaten der EU betroffen, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß und zu unterschiedlichen Zeitpunkten während der Pandemie. Auch die Konsequenzen der immens gestiegenen Energiepreise als Folge des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine und die wirtschaftspolitischen Folgen in Form hoher Inflationsraten und steigenden Zinskosten sowie die Folgen der latenten Klimakrise und die Notwendigkeit der Transformation der Wirtschaftsmodelle betrifft alle Mitgliedstaaten der EU.

Auf die Krise in der Eurozone vor rund einem Jahrzehnt reagierte die EU zunächst verhalten und mit den üblichen Instrumenten. Mit Gesetzgebungspaketen wurden die wirtschaftspolitische Koordinierung in der Eurozone verstärkt, die Überwachung der nationalen Haushaltspolitiken verbessert und Maßnahmen zur Vermeidung makroökonomischer Ungleichgewichte eingeführt. In Form des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) wurden darüber hinaus ein neuer Mechanismus zur Intervention im akuten Krisenfall eingeführt, das heißt bei wirtschaftlichen Schocks in einem oder einigen Mitgliedstaaten der Eurozone. Damit hatte die EU beziehungsweise die Eurozone im Verlauf der Krise wichtige, neue Werkzeuge zur Stabilisierung der gemeinsamen Währung in einem erneuten Krisenfall geschaffen und die bestehenden Aufsichtsmechanismen über die nationalen Haushalte und Politiken geschärft. Die wirtschaftspolitische Reaktion auf die Verschuldungskrise in der Eurozone bestand also nicht nur in europäischer Rechtsetzung, sondern auch in der Verständigung und der Betonung gemeinsamer europäischer Ziele, die mit jeweils nationalen Politiken in den Mitgliedstaaten umgesetzt werden sollten.

Darüber hinaus wurde die europäischen Fördermaßnahmen zugunsten der von der Krise betroffenen Mitgliedstaaten verstärkt. Zwischen 2007 und 2014 nahm das Ausgabevolumen der Förderbanken in der EU stark zu. Sowohl die Europäische Investitionsbank (EIB) als auch die nationalen Förderbanken gewannen als wirtschaftspolitische Akteurinnen an Bedeutung, denn sie übernahmen die Aufgabe, mittels Investitionsförderung eine antizyklische Konjunkturpolitik anzustoßen. Die Kommission unter ihrem damaligen Präsidenten Jean-Claude Juncker trieb zugleich die Einbindung der EIB in ihre wirtschaftspolitischen Initiativen voran. Mit dem sogenannten Juncker-Plan für strategische Investitionen legte sie den Fokus auf eine europäische Investitionsoffensive mit konjunkturstimulierenden Anreizen. Die Bemühungen, die europaweite krisenbedingte Investitionslücke zu schließen, ohne den EU-Haushalt übermäßig in Anspruch nehmen zu müssen, zielten auf wirtschaftliche Erholung, die Schaffung neuer Arbeitsplätze sowie den Ausbau der europäischen Wettbewerbsfähigkeit. Das Herzstück dieser Offensive war der Europäische Fonds für strategische Investitionen (EFSI), eine gemeinsame und abgestimmte Initiative der Europäischen Kommission und der EIB, um privates Investitionskapital für strategische Investitionsprojekte in der EU zu mobilisieren. In Form einer Kreditgarantie in Höhe von zunächst 21 Milliarden Euro konnte die europäische Förderbank ihr Geschäftsvolumen um rund 61 Milliarden Euro erhöhen, das wiederum – unter Einschluss privaten Kapitals – ein Gesamtinvestitionsvolumen in Höhe von mindestens 315 Milliarden Euro in der Realwirtschaft nach sich ziehen sollte. Ende 2017 erhöhten Kommission und EIB ihre Garantien, mit dem Ziel ein Investitionsvolumen von insgesamt 500 Milliarden Euro bis Ende 2020 zu erreichen. Die enge Kooperation zwischen der Europäischen Kommission und der EIB führte zur Umsetzung des neuen Kriseninstruments und erweiterte das wirtschaftspolitische Instrumentarium der EU und insbesondere der Europäischen Kommission. Das zunächst befristete EFSI-Programm der Juncker-Kommission wurde inzwischen als zusätzliches wirtschaftspolitisches Instrument der Kommission unter dem neuem Namen InvestEU verstetigt. Da zudem die nationalen Förderbanken ebenfalls direkt in das EU-Programm einbezogen werden, wird das Investitionsförderprogramm der EU zusätzlich gestärkt; zugleich werden auch die nationalen Investitionsentscheidungen und -förderungen auf die europäischen wirtschafts- und klimapolitischen Zielsetzungen hin orientiert.

In der Covid-19-Pandemiekrise im Jahr 2020 entwickelte die EU mit einem mehr als 800 Mrd. Euro umfassenden Wirtschaftsförderprogramm NextGenerationEU (NGEU) und der darin enthaltenen Aufbau- und Resilienzfazilität (ARF) sowie des neu-geschaffenen SURE-Programms zur befristeten Unterstützung mitgliedstaatlicher Arbeitsmarktprogramme ganz neue Instrumente der wirtschaftspolitischen Krisenbewältigung. Mit diesen neuen Instrumenten ging sie weit über die vertragsrechtlich vorgegebene wirtschaftspolitische Selbstbeschränkung hinaus.

Durch die nationalen Grenzschließungen war es zu Beginn der Pandemie in der EU zu Einschränkungen des Austauschs von Menschen, Gütern und Dienstleistungen gekommen und somit wurde die Integrität des europäischen Binnenmarktes in Frage gestellt. Zugleich vertieften die unterschiedlichen finanziellen Möglichkeiten der Mitgliedstaaten, auf die Pandemie mit nationalen Hilfsprogrammen reagieren zu können, die Wettbewerbsunterschiede im Binnenmarkt. Die Gefahr wuchs, dass die europäischen Volkswirtschaften weiter auseinanderdrifteten und auch die gemeinsame Währung an Wert und Stabilität verlieren könnte. Frühzeitig wurden ein starker Wachstumsrückgang und damit einhergehend drastisch steigende Arbeitslosenzahlen prognostiziert. Die EU vereinbarte schließlich ein Corona-Haushaltspaket mit dem immensen Umfang von insgesamt rund 1,8 Billionen Euro. Im Zentrum der Einigung stand die neue Fazilität ARF und die Entscheidung der EU, erstmals zu deren Finanzierung befristet gemeinsame Kredite aufzunehmen. Der schwere sozio-ökonomische Schock durch die Covid-19-Pandemie hatte gezeigt, wie notwendig eine abgestimmte europäische Reaktion war – und die EU war anders als während der Krise in der Eurozone ein Jahrzehnt zuvor auch in der Lage zu einer solchen starken Reaktion.

Die EU reagierte mit dem Green Deal auch auf die andauernde, latente Klimakrise und den daraus abgeleiteten fundamentalen Transformationsprozess der europäischen Volkswirtschaften. Mit dem Green Deal strebt die EU den Übergang zu einem gerechten, klimaneutralen und digitalen Europa im nächsten Jahrzehnt an; die ökonomische Nachhaltigkeit rückt ins Zentrum der europäischen wirtschaftspolitischen Koordinierung. Die grundsätzliche, langfristige und nachhaltige Transformation der europäischen Wirtschaft ist das vorrangige Ziel der europäischen Wirtschaftspolitik. Unter diesen klimapolitischen Prämissen wurden auch die bestehenden wirtschaftspolitischen Koordinierungs- und Förderinstrumente neu ausgerichtet. Die länderspezifischen Empfehlungen im Rahmen des Europäischen Semesters wurden insbesondere an die Leitlinien des nachhaltigen und grünen Wachstums angepasst. Die Förderprioritäten der europäischen Strukturfonds und der ARF und somit ein Großteil der europäischen Fördergelder wurden auf die klimapolitischen Ziele umgelenkt. Mindestens 37 % der insgesamt 723 Milliarden Euro der ARF sollen bis Ende 2026 für Klimaschutzmaßnahmen und gegen den ökologischen Wandel verwendet werden und mindestens 30 % der insgesamt rd. 380 Milliarden Euro aus dem EU-Budget für die europäischen Strukturfonds sollen für die Klimaschutzpolitik in den Regionen verausgabt werden. Die Garantie für private Klimaschutzinvestitionen soll darüber hinaus durch den Umbau der EIB zur „Klimabank der EU“ sowie durch Förderprogramme der nationalen Förderbanken ergänzt werden. Die EIB soll den Anteil ihrer auf Klimaschutz und ökologische Nachhaltigkeit ausgerichteten Finanzierungen bis zum Ende des Jahrzehnts schrittweise auf 50 % ihres Finanzierungsvolumens erhöhen. Investitionen für den Klimaschutz in Höhe von insgesamt rund 600 Milliarden Euro erhofft die Kommission sich davon.

Fazit: Die Anforderungen an eine europäische Wirtschaftspolitik

Die Europäische Union verfügt über ein begrenztes Instrumentarium für eine gemeinsame europäische Wirtschaftspolitik. Ihre Kompetenzen sind auf die Koordinierung der mitgliedstaatlichen Wirtschaftspolitiken konzentriert, obwohl mit dem Fortschreiten der wirtschaftlichen Integration in Binnenmarkt und Währungsunion eine gemeinschaftliche europäische Wirtschaftspolitik immer dringlicher wird. Zwar sind die Grundlagen und der Rahmen der europäischen Wirtschaftsverfassung mit der Aufnahme des Begriffs der „sozialen Marktwirtschaft“ in den Vertrag von Lissabon vorgegeben, doch bleiben der EU zu deren Konkretisierung wichtige Instrumente versagt. Sie hat keine Gesetzgebungskompetenzen im Bereich der Steuerpolitik, mit denen sie einerseits steuerpolitische Anreize setzen und andererseits eine umfassende Wettbewerbsgleichheit der Unternehmen im Binnenmarkt garantieren könnte. Das gleiche Problem begrenzter oder nicht ausreichender Zuständigkeiten besteht in der Fiskal- und Budgetpolitik sowie auf dem Gebiet der Sozial- und Beschäftigungs- sowie der Bildungspolitik.

Ob während der Verschuldungskrise in der Eurozone vor einem Jahrzehnt, ob als Reaktion auf die sozioökonomischen Folgen der COVID-Pandemiekrise, ob für den europäischen Green Deal oder während des globalen Förderwettbewerbs bei der Transformation der Volkswirtschaften, in allen Fällen griff und greift die EU zunächst auf die vorhandenen Instrumente der europäischen Wirtschaftspolitik zurück: die Regulierung im europäischen Binnenmarkt, das Wettbewerbs- und Beihilfenrecht sowie die Verwendung europäischer Fördergelder als finanzielle Impulse. Erst wenn dieses bestehende Instrumentarium nicht ausreichend erscheint, um das angestrebte Ziel zu erreichen oder einen ökonomischen Schock, bzw. eine Krise zu bekämpfen, werden zusätzliche und neue Instrumente in Betracht gezogen. Wirklich neue Instrumente wurde mit dem ESM in der Eurozonenkrise und mit NGEU, bzw. ARF während der Pandemiekrise entwickelt.

Auch das Europäische Semester wurde 2011 als Reaktion auf die Krise in der Eurozone neu geschaffen. Aber das Semester bleibt als Koordinierungs- und Monitorinstrument im Rahmen der begrenzten europarechtlichen Möglichkeiten der wirtschaftspolitischen Koordinierung. Diese Mechanismen, mit denen die nationalen Wirtschaftspolitiken im gemeinsamen Interesse koordiniert werden, ist seither immer konkreter und präziser geworden.

Ob es künftig gelingen wird, die EU auf eine nachhaltige und klimaschützende Form des Wirtschaftens unter den Bedingungen der Digitalisierung zu transformieren, hängt davon ab, ob die strukturellen und systemischen Begrenzungen und Hemmnisse für eine aktive, kohärente und effiziente europäische Wirtschaftspolitik abgebaut werden können. Gesucht wird also eine Lösung, um die eklatantesten Schwächen des Instrumentariums der bestehenden wirtschaftspolitischen Koordinierung zu beheben. Noch besteht ein Missverhältnis zwischen der Notwendigkeit, gemeinsame europäische Politiklösungen zu vereinbaren, und den spezifischen Bedürfnissen, Anforderungen und Erwartungen der Mitgliedstaaten und ihren Regionen. Die aktuelle europaweite und präzedenzlose Krise als Folge der Covid-19-Pandemie hat Möglichkeiten für Veränderungen eröffnet. Die Mitgliedstaaten haben erkennen müssen, dass sie bei aller Unterschiedlichkeit in ihren wirtschaftspolitischen Leitbildern und Ausgangssituationen über den Binnenmarkt und die Gemeinschaftswährung dennoch untrennbar miteinander verbunden, ja aneinander gekettet sind. Ziel muss es sein, die europäische Wirtschaftspolitik an einem gemeinsamen europäischen Mehrwert zu orientieren und mehr gemeinschaftliche öffentliche Güter bereitzustellen.

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Links & Fußnoten

 

Fußnoten

(1) Neben den 27 EU-Mitgliedern gehören auch Liechtenstein, Norwegen und Island de facto dem Binnenmarkt an; die Schweiz und das Vereinigte Königreich sind ebenfalls über bilaterale Abkommen in den europäischen Binnenmarkt angebunden.

(2) Europäische Kommission, Der Binnenmarkt in einer Welt im Wandel – Ein wertvoller Aktivposten braucht neues politisches Engagement, KOM (2018) 772 endg., Brüssel, 22.11.2018, S. 1.

(3) Europäische Kommission, Ein vernetzter digitaler Binnenmarkt für alle, KOM (2017) 228 final, Brüssel, 10.5.2017.

(4) Anu Bradford, „The Brussels Effect“, in: Northwestern University Law Review, 107 (2012) 1, S. 1–67.

(5) Europäische Kommission. 30 Jahre Binnenmarkt, COM (2023) 162 final, Brüssel, 16.3.2023.

(6) Bertelsmann-Stiftung, Ökonomische Effekte des EU-Binnenmarktes in Europas Ländern und Regionen, Gütersloh 2019.

(7) Die Staats- und Regierungschefs der EU hatten sich bei ihrem Treffen in Lissabon im März 2000 auf das strategische Ziel verpflichtet, die Union bis zum Jahr 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen und für Vollbeschäftigung zu sorgen.

(8) Europäische Kommission, Der europäische Green Deal, KOM (2019) 640 final, Brüssel, 11.12.2019.

(9) Die vertraglich in Artikel 39 AEUV vorgegebenen Ziele und Aufgaben dieser Politik umfassen die Steigerung der Produktivität sowie des Pro-Kopf-Einkommens in der Landwirtschaft, die Stabilisierung der Märkte für Agrarprodukte und schließlich die Sicherstellung einer kostengünstigen Versorgung mit Agrarprodukten.

(10) Zu den Strukturfonds werden der Europäische Sozialfonds (ESF), der Europäische Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) sowie der Kohäsionsfonds (KF) gezählt. Neu hinzugekommen ist der Fonds für einen gerechten Übergang (Just Transition Fonds, JTF).

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